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Waschen, Schneiden, Legen, bitte …

Ich möchte mal wieder alles nachschauen lassen

Wöchentlich trifft man auf Menschen in der eigenen Praxis, die definitiv keine Gesundheitsprobleme haben. Sie kommen quasi zur Routineinventur, mal alles nachschauen lassen bitte und mal alles schön durchschallen von Kopf bis Fuß. Gerne auch mit Extraservice: Aorta für 22,50€? Geschenkt! Das hat man sich schließlich verdient, nicht wahr? Das Auto kommt ja auch zum Kundendienst, damit es lange hält und keine Mucken macht.

Widerspruch habe ich längst aufgegeben:

  • Sie zahlen in eine Solidarversicherung ein, die Leistungen Ihrer Krankenversicherung sehen Vorsorgeleistungen vor, deren Nutzen erwiesen ist, dazu gehört nicht der jährliche Gang zum Kardiologen
  • Sie riskieren, dass der ‚TÜV‘ nicht zu Ihrer Zufriedenheit ausfällt. Ich kann bei Ihnen Dinge entdecken, die keinen Behandlungsbedarf auslösen, Ihnen aber Sorgen bereiten können.
  • Die Ergebnisse von vielen Untersuchungen stehen im Kontext der geklagten Beschwerden. Ein auffälliges Belastungs-EKG bei einer Beschwerdefreien bedeutet eben nicht, dass wir jetzt einen Herzkatheter brauchen.
  • Sie blockieren Ressourcen für Patienten, die seit Wochen auf einen Termin warten.

Was soll’s?!

Mit meinen Argumenten stehe ich eh allein. Alle machen mit: die Patient*innen halten es für ihr gutes Recht, Überweisung vom Hausarzt, wozu denn? Die Ärzte denken sich: ‚So kann ich leicht Geld verdienen‘, die Krankenkassen antworten wieder besseren Wissens ihren Kunden: ‚Wir zahlen Ihnen selbstverständlich alles, was der Arzt für nötig hält!‘ – und die Beiträge steigen, steigen, steigen. Die Kalender laufen über.

Und wer bezahlt es? Die ‚Chroniker‘

Iiiiih! Chroniker..! Das sind die lästigen Wiederkehrer, deren Rezepte so teuer sind, die mehr als einmal pro Quartal zur Praxis kommen und den Gewinn aus der Quartalspauschale mindern. Das sind die heißen Kartoffeln, die keiner haben will. Sie sind die scheinbaren Kostentreiber, die Bleikugeln am Bein des Gesundheitssystems.

Was für eine Fehlwahrnehmung! Würden wir die Luxuskunden ihren Luxus aus eigener Tasche bezahlen lassen, was hätten wir für Ressourcen freigesetzt.

Doch, so sagt mir ein seit Jahrzehnten bekannter Kollege, der alle Abrechnungstricks auf Lager hat und weiß, ‚wie es läuft‘:

So ist das System!

Da kann man nix machen. Und wir haben es ja nicht erfunden, nicht wahr?

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Lottoprognose

Es gibt Tage, da wird man angesichts der Erwartungen an die eigene Profession einfach überfordert …

Eine nette 88Jährige erscheint in der Praxis zur ‚Routinekontrolle‘. Ich liebe Routinekontrollen! Je älter und gebrechlicher eine Patient*in, desto mehr.

Routinekontrollen verstopfen den Praxiskalender wie Kleber ein Getriebe. Sie haben häufig den Sinngehalt einer Matrizenpresse (Wer erinnert sich noch an die blauen Durchschläge von Arbeitsblättern in der Schule?). Wie ein buddhistisches Mantra wiederholen sich die Arztbriefe, dass soweit alles stabil und kein Progress zu sehen ist. Und ähnlich wie bei einem Gebet wird die Tradition des Arztbesuches hochgehalten und gepflegt.

Nun gut, die ‚junge Dame‘ schließlich hat bei der Untersuchung das alte leicht angeschlagene Herz einer 88jährigen, die Ventile sind etwas undicht, der Motor stottert, schwach aber stetig läuft er trotzdem so dahin. Wie lange ist ungewiss.

Zum Abschlussgespräch hat sich schon der Sohn der Patientin angemeldet. Ich erwarte – wie so oft – einen Mann in den besten Jahren, der seine Mama als Zentralgestirn seines Universums verklärt und deswegen ängstlich auf jede ungute Nachricht wartet.

Weit gefehlt! Ich erkläre die Story vom alten Motor mit den undichten Ventilen und der fehlenden Kompression in schönem Medizinisch und ernte eine mit breitem Grinsen vorgebrachte herablassende Antwort:

Das brauchen Sie mir doch nicht zu sagen, dass habe ich schon selbst gewusst. Das ist ja nix Neues!

Habe ICH die Mama herbestellt zur Routinekontrolle? Nein, die Mama kam von sich aus. Der Sohn wollte unbedingt zum Abschlussgespräch dazu kommen. Was also war ihm so wichtig zu erfahren?

Wenn Sie das alles schon genau so vorher wussten, dann sagen Sie mir doch, was Sie gerne von mir Neues erfahren wollen?

Die Lottozahlen von nächster Woche …!

Ach so! Da habe ich heute wieder eine echte Niete gezogen. Obwohl die Kalkulation einer Prognose zu meinen Aufgaben gehört, bei Lotto musste ich leider passen …

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Flipper

Kennen Sie Pinball? Früher hieß das Flipper. Da wird eine Kugel hin und her geschubst und die Spieler müssen aufpassen, dass die Kugel nicht unten rausfällt. Je länger die Kugel im Spiel bleibt, desto mehr Punktgewinn für die Spieler.

Wären Sie diese Kugel: Unten rausfallen: irgendwann ist es unvermeidlich, aber ist das Spiel dann aus? Was kommt nach dem Spiel? Wer weiß das schon genau… Also lieber im Spiel bleiben, nicht wahr?

Wir Ärzte halten den Flipper schön am Laufen und versuchen dabei wertvolle Punkte zu sammeln: die heißen in unserem Jargon CM-Punkte, EBM-Punkte oder GOÄ-Punkte.

Und so rollt die Kugel mal schnell wie eine Tarantel, mal ganz ruhig einen schönen Bogen beschreibend oder in einer Nische ruhend vom Hausarztkatapult zur Kardiologen-Plaza in die Notaufnahme einer Klinik, die die Kugel nach viel zu kurzer Zeit zurück katapultiert. Über Hausarzt zu Reha und zurück zum Hausarzt, dort entlang der Facharztrennbahn wieder zum Hausarzt, Physio und Psycho, bis es auf die große Wippe ganz unten geht – Gefahr!

Doch dank begnadetem Geri-Reha-Wippenschubs läuft die Kugel noch einmal zurück ins Spiel, in die Onko-Falle über den Chemobogen in die Notaufnahme, leider mit Punktabzug für ambulante Landung zurück zum Hausarzt.

Tja also …. Was für eine geschmacklose Karikatur der Medizin, zynisch wie einst die Ärztebibel ‚House of God‘!

Und ja, das Bild vom Flipper ist klar überzogen – und doch enthält es eine Wahrheit, der wir regelmäßig begegnen können. Das System der Medizin dient halt nicht nur dem Menschen, es (be)dient auch – pssst!- sich selbst…

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Fanta in der Wüste

Der heutige Besuch eines Patienten hat mich grübeln lassen: Bereits zum 3. Mal hat mein 75jähriger Gast einen Stent am Herzen erhalten, weitere Engstellen bestehen noch, die Beinarterien sind verkalkt und und die Hirngefäße auch. Wegen einer Wirbelsäulenabnutzung hat der Patient Rückenschmerzen.

Und trotz dieser Gefährdungslage entspinnt sich eine Diskussion um praktisch jedes Medikament, das der Patient nehmen muss:

ASS und Ramipril: die machen Hörgeräusche und genau die hat er ja! Da könne er doch solche Medikamente nicht einnehmen.

Cholesterinsenker? Um Gottes Willen, die machen doch Muskelschmerzen. Die habe er ja auch schon bekommen, am Rücken ziemlich schlimm.

Kurz bevor der Patient ausholt, mir seine Konflikte mit Medikamenten von der Jugend an ausführlich zu schildern, beschließe ich erst einmal meine Untersuchungen zu machen. Damit kann ich Zeit gewinnen und etwas nachdenken.

Wie mache ich einer Patient*in komplexe Zusammenhänge in 3 Minuten so begreiflich, dass er/sie meine Absicht versteht und motiviert wird, seine Medikation zu nehmen? Die meisten wissen nicht, dass bei den Angaben zur ‚Nebenwirkung‘ von Tabletten auch Symptome gehören, die krankheitsbedingt bestehen und auch unter Placebo auftreten können.

Als Wüstenfan habe ich es mit einem Gleichnis versucht:

Mit Ihrer Krankheit ist es wie mit einer Reise in der Wüste. Wenn Ihnen das Wasser ausgeht und sie sich dürstend über die Dünen schleppen und es kommt vom Horizont her ein Beduine geritten und hält Ihnen eine kalte 1,5-Liter-Flasche mit Fanta hin, was würden Sie tun? Würden Sie sagen: ‚Fanta, hmmmh, da ist ja so viel Zucker drin und Farbstoffe, dass macht doch Karies und Sodbrennen. Sorry, aber das nehme ich nicht…‘?

Mein Gegenüber blickt mich an, denkt nach und antwortet:

‚Herr Doktor, nein, ich würde die Fanta nehmen! Verschreiben Sie mir einfach was, was mir hilft und was keine Nebenwirkungen hat und ich verspreche Ihnen, ich nehme das ganz regelmäßig!‘

O.k., denke ich mir, das mit der Fanta in der Wüste, das hat nicht so geklappt…

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Rezept

Eine Patient*in besucht uns regelmäßig zur Blutdruckkontrolle. 154cm Körpergröße, aber 96 kg. Für ein solches Gewicht ist er/sie doch ein wenig klein geraten zugegeben.

Aber immerhin stellt er/sie mir keine Fragen, die sich bei realistischer Einschätzung selbst beantworten würden, ohne dass es einer ‚Spezialist*in‘ bedürfte:

Warum muss ich immer so schwitzen, wenn ich Treppen steige? Da kann doch was nicht stimmen …

Häufige Frage bei einem BMI von 36kg/m²

Die nette Person dagegen ist zufrieden mit sich und der Welt, will nur einen kleinen TÜV beim Doc.

Das erleichtert mich sehr und macht mir meine Kund*in sympathisch. Von alleine komme ich daher darauf zu sprechen, ob ich noch etwas für sie tun könne … braucht sie vielleicht noch Rezepte?

Rezepte? Ooh nein, Doktor, vielen Dank. Ich habe ganz viele Rezepte daheim, wissen Sie! Ich koche noch alles selbst.

Verblüfft und entwaffnet lässt mich die Patient*in mit meinem unattraktiven Rezeptblock zurück …

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Lebenslänglich

ASS 100mg0-1-0lebenslänglich
Bestandteil vieler Medikamentenpläne

Haben Sie eine Koronare Herzkrankheit? Verkalkung der Arterien?

Nein, noch nicht?

Aber Sie kommen in dieses Alter, nicht wahr, wo man sicherlich schon Verkalkungen hat, man hat sie bloß noch nicht entdeckt!

Dann müssen Sie vor das ärztliche Tablettengericht und werden abgeurteilt:
ASS 100 0-1-0, lebenslänglich.

Mit einem Herzinfarkt in der Vorgeschichte oder einem Schlaganfall wird im übrigen auf die besondere Schwere der Schuld erkannt und somit ist ein vorzeitiges Absetzen von ASS nach Verbüßung von 15 Jahren Mindesttherapie leider nicht mehr möglich.

Worauf beruht dieses harte Urteil?

Durch gemeinsame Analyse großer Studiendaten (zusammen fast 11.000 Patienten) wurde gezeigt, dass ohne ASS 3 von 100 Menschen mit früherem (länger als 1 Jahr zurückliegenden) Herzinfarkt, mit ASS aber nur 2 von 100 Patienten pro Jahr einen zweiten Herzinfarkt bekommen, 4,5 von 100/Jahr starben gegenüber 4 von 100/Jahr mit ASS an einer Erkrankung des Herz-Kreislaufsystems.

Das heißt: 1 Jahr macht kaum einen Unterschied (Eine von 100 hatte Erfolg mit ASS), pro Jahr aber wird der Nutzen der Therapie dann deutlicher (jedes Jahr einer mehr). Dennoch werden immer viele Menschen ASS einzunehmen haben, damit einige davon einen Nutzen ziehen.

Das sind messbare und gute Effekte, aber ist es auch Russisch Roulette, wenn man die Einnahme irgendwann mal einstellt? Muss man dieses Medikament auch dann noch einnehmen, wenn man bereits pflegebedürftig oder gebrechlich geworden ist, oder wenn Dich weitere Erkrankungen mehr bedrohen, als der Herzinfarkt vor 12 Jahren?

Natürlich nicht. Und deshalb müssen solche Maximalbegriffe aus unserem ärztlichen Vokabular dringend verschwinden. Statt dessen versäumen es die meisten von uns Ärzt*innen, den Medikamentenplan kritisch zu prüfen und dann ein bewusstes ‚Describing‚ durchzuführen, wenn es Wichtigeres gibt, was die Patient*in braucht.

Mutlos

Aber Ihr glaubt ja nicht, welche Ängste da durch unseren Berufsstand gehen. Darf man das, ein Medikament absetzen? Die Leitlinien, die Angehörigen, der Staatsanwalt … was werden die sagen?

Ein Urteil ist leichter gesprochen.

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Nebenwirkung

Oft, nicht immer, bringen meine Patienten einen Medikamentenplan mit. Das ist schon mal richtig gut! Denn oft vergeht eine geraume Zeit, da die aktuelle Therapie erst einmal recherchiert werden muss.

Das heißt natürlich nicht, dass der Plan eine Beschreibung der Medikamentenwirklichkeit ist, es ist eher eine Art Gemälde, eine abstrakte Annäherung an die Wirklichkeit oder eine künstlerische Interpretation derselben.

Zum Beispiel

Hier mein Plan … , aber die große Tablette für mein Herz, die nehme ich eigentlich nicht. Und von der anderen, die mit den 5mg, da nehme ich abends meist keine. Es sei denn, ich habe hohen Blutdruck, dann nehme ich eine oder zwei.

Die einzige Tablette auf dem Plan mit 5mg heißt ‚Eliquis‘ und ist ein starker Blutverdünner… OMG ! 😦 Ich möchte mir lieber nicht ausmalen, welche Risiken manch einer meine Patient*innen eingeht.

Soll ich die alle nehmen? Die haben ja alle Nebenwirkungen! …

Was soll ich sagen? Dass die eigentliche Motivation der Behandlung zunächst einmal die Wirkung einer Tablette ist, wird im Kontext solcher Diskussionen gerne mal übersehen.

Aber es ist schon was dran: schauen wir uns den Plan bereinigt nach den Angaben der Patient*in und der Realität angenähert doch nochmal genauer an: Stimmt, da sind mögliche Wechselwirkungen übersehen worden und ja: nur wenige Medikamente sind ein absolutes Muss.

Zum Beispiel Diabetes Typ II oder Blutdruck: Gewicht abnehmen, mehr Bewegung, salzarme Ernährung sind oftmals stärker wirksam als die verordneten Tabletten. Oder Cholesterinsenker: ohne Herzinfarkt oder Schlaganfall in der Vorgeschichte bringen sie nur einen schwachen Vorteil für Menschen mit erhöhten Werten. Eine Patient*in, die sich also wirklich für ihre Gesundheit interessiert, wird möglicherweise Wege finden, einer Polypharmazie zu entkommen.

Ich esse ja fast gar nichts mehr, ich gehe jeden Tag mit meinem Hund ums Haus spazieren und Salz tue ich schon lange nicht mehr auf die Pommes aus der Bude. Fleisch esse ich gar nicht mehr, nur noch Wurst, Sülze und Leberkäse…

Überzeugende Gegenrede einer Patient*in gegen ungerechtfertigte Hinweise zur gesunden Lebensweise und deren Auswirkung auf den Medikamentenbedarf

Nach langem zähen Ringen dann einigen wir uns auf einen schlanken Plan mit weniger Wirkung, sei es nun Neben-Wirkung, Wechsel-Wirkung oder Wirkung in Reinform. Hauptsache, Plan und Patient*in sind sich einig geworden … ! Irgendwo hat sie ja recht: Viel zu oft sprechen Mediziner Sätze wie: ‚Das müssen Sie nehmen‘, was keinesfalls immer aus der Datenlage so geschlossen werden kann.

Doch dann das Finale:

Herr Doktor was halten Sie eigentlich von Omega-3-Multivitamin-Booster-Vitalkapseln? Sind die gut? Die kaufe ich mir immer zusammen mit den Magnesium-CoenzymQ-Sprintperlen, die hat mir die Schwester meiner Freundin neulich empfohlen. Das soll die Widerstandskräfte stärken und Lebensfreude geben. Kann ich die nehmen?

Hatten wir nicht gerade ….?

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Auch Relativ

aus Arztsicht

‚Bis April soll ich mit meinem Termin warten? Bis dahin kann ich gestorben sein! Hören Sie, Fräulein, Frau Doktor kennt mich, ich bin quasi ihre beste Freundin. Da MUSS doch was früher drin sein. Da fragen Sie doch bitte bei Frau Doktor nochmal nach‘

Typisches Termintelefonat

Mit diesen oder anderen Dringlichkeiten füllt sich also der Kalender, bis er fast platzt. Längst ist das Limit, dass wir abrechnen könnten, überschritten.

Wenn ich mich dann morgens an den Tageskalender setze, dann pfeife ich schon mal Luft durch die Zähne. Das wird schon gut gehen, das muss dann aber laufen wie ein Uhrwerk: VIERTELSTUNDE!

Der Erfolg des Tages hängt gefühlt von den ersten drei Gesprächen ab. Wehe, die erste oder zweite Patient*in beginnt mit dem Satz:

‚Herr Doktor, Sie sind meine letzte Rettung!‘

Denn damit leitet sie meist die Geschichte einer langen tragischen und nie zur Zufriedenheit der Leidenden behandelten Krankheitsgeschichte ein, deren Stationen ausreichend gewürdigt werden müssen. Das Wurmloch (siehe Blog zuvor) krümmt sich aufs Äußerste, dreht und windet sich und verschlingt die VIERTELSTUNDE mit Haut und Haaren – oder?

Nein, nicht immer. Aber auch Ärzte sind nun mal so emotionale Personen, die nur RELATIV souverän mit dem von ihnen selbst gesetzten Takt des Kalenders umzugehen wissen.

Am Ende muss ich zugeben, weiß ich ÜBERHAUPT NICHT, welcher Tag in Erschöpfung enden wird, und welcher mich stimuliert und motiviert. Und selbst die ‚Rettung‘ suchende Patientin des Morgens kann sich als leicht zugänglich und gut therapierbar erweisen.

Aber warum sollte ich als Arzt auch über der Relativitätstheorie stehen? Mein Raum-Zeit-Kontinuum erweist als mindestens so verformbar, wie das meiner Besucher.

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Relativitätstheorie

aus Patientensicht

Schon seit Einstein wissen wir, dass Zeit und Bewegung miteinander untrennbar verbunden sind: Könnten wir uns mit knapper Lichtgeschwindigkeit bewegen, so würde für uns eine Sekunde vergehen, während die Ruhenden Ihr ganzes Leben gelebt hätten.

Auch als Nichtphysiker*in kann man Zeit als sehr relatives Maß erleben, sitzt man beispielsweise in einem überheizten Wartezimmer mit anderen Patient*innen und wartet auf seinen Aufruf.

Das Auto steht derweilen auf einem bezahlten Parkplatz und während die Parkuhr beharrlich und unbestechlich den gezahlten Kredit verschlingt, starrt man derweilen in so ein Heft des Lesezirkels, für das man im normalen Leben kein Interesse hätte. Hier aber vermeidet der Blick in Boulevardblättchen die optische Begegnung mit anderen Leidenden.

Vor Monaten hat man sich einen Termin erkämpft und nun, da man nach Übergabe von Krankenkassenkarte, Überweisungsschein, Coronafragebogen und Datenschutzerklärung endlich dem Besuch der Ärzt*in so nahe gekommen ist, erscheint jede Minute eine Zumutung für die Geduld, lateinisch Patientia, zu sein, die man nach dem Verständnis des Praxispersonals aufzubringen habe.

Das Raum-Zeit-Kontinuum allerdings gerät in eine Verformung, wird die Welt des Wartezimmers zurückgelassen und gegen das Sprechzimmer getauscht. Spätestens mit dem Eintreten der Ärzt*in beschleunigt sich der Zeitenlauf. Alles, was auf dem Herzen liegt, muss nun durch das Wurmloch einer durchschnittlichen Viertelstunde hindurch.

Die Ärzt*in aber scheint gar nicht recht dem eigenen Erzählen Gehör zu schenken, klappert mit einem schielenden Blick zum Computer auf ihrer Tastatur herum. Die Patient*in dagegen versucht, den krampfartigen Schmerz in der Brust vor 12 Wochen, den sie für schreckliche drei Sekunden im Bette liegend verspürt hatte, so plastisch zu beschreiben, dass die Angst dieses Momentes auch bei ihrem Gegenüber Aufmerksamkeit zu erringen vermag.

Wurmloch im Sprechzimmer?

Auf der anderen Seite des Schreibtisches versuche ich die Essenz einer gedehnten Erzählung zu erfassen, einzuordnen und die Spreu vom Kern zu trennen.

Doch davon in einer Fortsetzung….

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Babylon

Turmbau zu Babylon (Genesis 11, 7) – der Herr sprach: „lasst uns…ihre Sprache verwirren, dass keiner mehr des anderen Sprache versteht….“.

Altes Testament

Manchmal denke ich: Gott sei Dank waren die Menschen in Babylon so kühn und haben an einem Wolkenkratzer gebaut. Hätten wir sonst heute so viele wohlklingende Sprachen auf der Welt, exotisch, erotisch, kryptisch?

So aber sitzen täglich Menschen vor mir, deren Deutsch vielleicht noch gebrochen ist, aber deren Heimatsprache dagegen nach jener Ferne klingt, in die es mich seit Corona immer sehnsüchtiger zieht, je länger mich das Virus nervt.

Nichts nervt Menschen mit Migrationshintergrund dagegen mehr als ständig gefragt zu werden, wo sie denn herkommen. Immer mehr sind hier geboren und schlicht Deutsche. Da richtet man ganz besonders große ‚Freude‘ mit der Frage nach dem Woher an. Frisch Zugezogene dagegen wollen hier ankommen, statt ständig an ihr Fremdsein erinnert werden. Es gehört zu den typischen Widersprüchen bei uns, Integration einzufordern, um sich im nächsten Moment vor allem für die Verschiedenheit zu interessieren.

Also frage ich nicht, sondern versuche zu verstehen, welche Sprachfamilie da gesprochen wird. Türkisch, Farsi und Arabisch höre ich schon ganz gut heraus, slawische Sprachen klingen für mich alle gleich, aus der romanischen Sprachfamilie schwärme ich für die Melodie des Portugiesisch.

Eine glückliche Fügung, wenn sich dann ein netter Syrer aus nicht so fernen Oberhaid (wie sich dann herausstellt) und seine für ihn übersetzende Tochter für MEINE Herkunft interessieren, weil unsere Praxis mit zahllosen Bildern aus dem Morgenland gepflastert ist.

Dann kann ich IHNEN vom Orient erzählen und meiner innigen Beziehung dorthin.

Wer mehr darüber wissen will, der findet auf den Blogseiten meiner Frau reichlich Stoff: Sandmeere.de