aus Patientensicht

Schon seit Einstein wissen wir, dass Zeit und Bewegung miteinander untrennbar verbunden sind: Könnten wir uns mit knapper Lichtgeschwindigkeit bewegen, so würde für uns eine Sekunde vergehen, während die Ruhenden Ihr ganzes Leben gelebt hätten.
Auch als Nichtphysiker*in kann man Zeit als sehr relatives Maß erleben, sitzt man beispielsweise in einem überheizten Wartezimmer mit anderen Patient*innen und wartet auf seinen Aufruf.

Das Auto steht derweilen auf einem bezahlten Parkplatz und während die Parkuhr beharrlich und unbestechlich den gezahlten Kredit verschlingt, starrt man derweilen in so ein Heft des Lesezirkels, für das man im normalen Leben kein Interesse hätte. Hier aber vermeidet der Blick in Boulevardblättchen die optische Begegnung mit anderen Leidenden.
Vor Monaten hat man sich einen Termin erkämpft und nun, da man nach Übergabe von Krankenkassenkarte, Überweisungsschein, Coronafragebogen und Datenschutzerklärung endlich dem Besuch der Ärzt*in so nahe gekommen ist, erscheint jede Minute eine Zumutung für die Geduld, lateinisch Patientia, zu sein, die man nach dem Verständnis des Praxispersonals aufzubringen habe.
Das Raum-Zeit-Kontinuum allerdings gerät in eine Verformung, wird die Welt des Wartezimmers zurückgelassen und gegen das Sprechzimmer getauscht. Spätestens mit dem Eintreten der Ärzt*in beschleunigt sich der Zeitenlauf. Alles, was auf dem Herzen liegt, muss nun durch das Wurmloch einer durchschnittlichen Viertelstunde hindurch.
Die Ärzt*in aber scheint gar nicht recht dem eigenen Erzählen Gehör zu schenken, klappert mit einem schielenden Blick zum Computer auf ihrer Tastatur herum. Die Patient*in dagegen versucht, den krampfartigen Schmerz in der Brust vor 12 Wochen, den sie für schreckliche drei Sekunden im Bette liegend verspürt hatte, so plastisch zu beschreiben, dass die Angst dieses Momentes auch bei ihrem Gegenüber Aufmerksamkeit zu erringen vermag.

Auf der anderen Seite des Schreibtisches versuche ich die Essenz einer gedehnten Erzählung zu erfassen, einzuordnen und die Spreu vom Kern zu trennen.