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Persönlichkeit

Die eigene Krankheit oder das Leiden, ja, selbst die eigenen Messwerte werden im Gespräch mit dem Arzt gerne dargestellt wie eine eigene Persönlichkeit, mit der man es zu tun hat.

Mein Blutdruck, Herr Doktor, macht was er will. Ich hab ganz ruhig und entspannt dagelegen und plötzlich ist er total explodiert und ’naufg’schossen. Himmel, hab ich da Angst gekriegt. Und nach der Tablette dann habe ich ein wahnsinniges Hitzegefühl bekommen, und der Blutdruck ist hinabgesaust, dass mir ganz schwindlig wurde.

Zitat eines typischen Blutdruckopfers

Demnach wäre es also meine Aufgabe, den Bösewicht Blutdruck zu behandeln, mit dem das Opfer eigentlich nichts zu tun hat.

Die an Naturwissenschaft und Technik orientierte moderne Schulmedizin versteht Krankheit als eine relative, an statistischen Normen gemessene Regelwidrigkeit morphologischer, physiologischer oder funktioneller Art und im weiteren Sinn auch als Störung psychischer, sozialer und geistiger Funktionen. […] Und vom Arzt wird erwartet, dass er ein erfolgreicher Gesundheitsingenieur ist.

Bernhard Maurer, Theologe, in: Dt. Ärztebl. 84, Heft 15, 9. April 1987 (35)

Die Ärzt*in bringt dann den spenstigen Blutdruck durch eine beherzte Umstellung des Chemiekonglomerates in ein neues (Un-)Gleichgewicht oder stellt eine Überweisung zum ‚Spezialisten‘ aus.

Doch weder klappt es, einer Patient*in die alleinige Täterschaft an einer Erkrankung zuzuweisen noch sie aus der Verantwortung für das Management ihrer Gebrechen vollkommen zu entlassen.

In einigen wenigen Sternviertelstunden gelingt die Mitte zwischen den Extremen, zum Beispiel, indem die Patient*in aus ihrem bisher gepflegten Konzept gebracht wird:

Können Sie sich vorstellen, warum Ihr Blutdruck nicht explodiert, wenn Sie abgelenkt sind?

Gefährliche Rückfrage einer Ärzt*in, wenn sie nur eine Viertelstunde Zeit hat bis zum nächsten Kunden

Solche Interventionen sind schon risikoreich,

aber manchmal enden sie auch glücklich. In diesem Beispiel müsste die Patient*in über sich nachdenken und käme evtl. darauf, dass der Blutdruck etwas mit einer körperlichen Ruhe zu tun hat, die dem Kopfkino Raum gibt, ein kleines Drama aufzuführen, und dass der Blutdruck gar keine eigene Persönlichkeit ist, sondern ein Tachometer der Befindlichkeit.

Hier wird es kniffelig für eine Behandler*in:

Denn nun kann sie die Gefragte nicht einfach stehen lassen mit ihrer Reflektion, sondern muss ihr auch weitere Hilfestellung geben. Und hier zeigt sich dann das Problem unserer Zunft: Keine Idee oder keine Zeit oder keine Nerven oder alles zusammen.

Gerade beim Blutdruck wissen auch Viele gar nicht, dass er immer schwankt, Schlag für Schlag, Minute um Minute. Allein schon dieses Defizit an Information lässt manche ‚verzweifeln‘ und lässt sich leicht beheben.

Buchstäblich den Druck aus dem Kessel nehmen kann man

durch Vereinbarung realistischer Zwischenziele anstatt Konfrontation mit medizinischen Leitlinien, durch Vereinbarung ausreichend langer Zeit bis zu deren Erreichen – ohne das optimale Behandlungsziel aus den Augen zu verlieren.

Dann kann in einzelnen Fällen der Blutdruck zu einer entspannteren gefestigten und umgänglichen Persönlichkeit reifen, mit der man sich fast ein bisschen anfreunden könnte. 😘

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